Johanna Pahl
Einladung zum offenen Austausch
Während wir in den Altertumswissenschaften die Sorgen von Menschen in der Vergangenheit erforschen, möchte ich den Blick auf uns selbst lenken und fragen: dürfen, sollen oder gar müssen wir uns um menschliche Überreste, den Umgang mit menschlichen Überresten und die Menschen, die mit den menschlichen Überresten umgehen, sorgen? Um sich dieser Frage zu nähern, wurde 2022 der Workshop „Zwischen Abstumpfung und Sentimentalität – wie gehe ich eigentlich mit menschlichen Überresten um?“ mit Studierenden der Prähistorischen Archäologie der Freien Universität Berlin durchgeführt und die Ergebnisse dieses Workshops sowie des Weiteren damit im Zusammenhang stehenden Umfeldes werden hier präsentiert. Die sich daraus ableitende, dringende Empfehlung besteht darin, die Studierenden archäologischer Fächer einzuladen, in einen offenen, emotionalen Austausch zum Umgang mit menschlichen Überresten zu treten; diesen und die dazugehörige Selbstreflexion curricular anzuregen.
Der Status Quo in der postmortalen Lehre
In den altertumswissenschaftlichen Fächern ist die Begegnung mit menschlichen Überresten ebenso obligatorisch wie in der Humanmedizin. In beiden Fachrichtungen stellen Körper(-teile) von verstorbenen Menschen eine wichtige und notwendige, deshalb unumgängliche Lehr- und Wissenschaftsressource dar.1 Während in der Humanmedizin die Vorbereitung auf diese Begegnung fest im Curriculum verankert ist2 und eine ausdrückliche Einladung zum Austausch über persönliche Emotionen enthält,3 beschränken sich die Altertumswissenschaften zumeist auf den allgemeinen Hinweis, dass ein „würde- und respektvoller Umgang mit menschlichen Überresten“ (Grupe u. a. 2015, 34) auch in der Lehre anzuwenden sei.
Langsam scheint sich jedoch ein Paradigmenwechsel anzukündigen. 2013 wurde vom Deutschen Museumsbund noch ‚Lernen am Vorbild‘ empfohlen:
„Hier können die Studierenden nicht nur fachwissenschaftliche Erfahrungen und Erkenntnisse sammeln, sondern auch die ethischen Aspekte begreifen und diskutieren, indem sie sehen, wie mit menschlichen Überresten umgegangen wird […].“ (DMB 2013, 59–60)
„Hier können die Studierenden nicht nur fachwissenschaftliche Erfahrungen und Erkenntnisse sammeln, sondern auch ethische Aspekte zur Forschung an menschlichen Überresten begreifen und diskutieren.“ (DMB 2021, 48)
Demnach wurde die aktiv gestalterische Rolle der Studierenden im Leitfaden des deutschen Museumsbunds gestärkt.
Weiter weist die Fassung von 2013 den Museen und Sammlungen klar die Verantwortung zu, den Rahmen für die Lehre an menschlichen Überresten zu schaffen: „Das Museum/die Sammlung definiert die Richtlinien für den Zugang und trägt Sorge für einen würdigen Umgang“ (DMB 2013, 60). Im Gegensatz dazu formuliert die Version von 2021 eine allgemein gehaltene Empfehlung, ohne konkrete Akteur*innen zu benennen: „Für den Zugang sollten Richtlinien definiert werden, die einen würdigen Umgang gewährleisten“ (DMB 2021, 48). Dies könnte darauf abzielen, alle Beteiligten – einschließlich der Studierenden – in die Aushandlung dieses würdigen Umgangs einzubeziehen. Allerdings birgt die vage Formulierung auch die Gefahr, dass sich niemand in der Verantwortung sieht für den würdevollen Umgang Sorge zu tragen.
Obwohl im Leitfaden von 2021 Studierende als Mitgestaltende präsent sind, widmet das 160 Seiten umfassende Grundlagenpapier des Museumsbundes der Lehre lediglich zehn Zeilen. Dabei wird ausschließlich die Frage diskutiert, ob menschliche Überreste in der Lehre verwendet werden dürfen.4 Der Fokus liegt also auf den menschlichen Überresten selbst; die studentische Perspektive auf die menschlichen Überreste wird nicht berücksichtigt.
Dies spiegelt den Status Quo des Umgangs mit Studierenden in den Altertumswissenschaften wider: curriculare Veranstaltungen oder andere Angebote, welche die Position der Studierenden berücksichtigen, indem sie sich gezielt auf die Begegnung mit menschlichen Überresten vorbereiten oder sich mit den mentalen Aspekten im Umgang mit menschlichen Überresten beschäftigen, existieren m. W. bis dato nicht. Auch Quast teilt diese Auffassung:
„In der deutschsprachigen Archäologie werden Fragen im Umgang mit menschlichen Überresten bislang aber immer noch nicht diskutiert […] In der Lehre fehlt das Thema komplett. Ich zumindest habe während des Studiums an drei unterschiedlichen Universitäten nicht eine einzige Reflexion dazu gehört […]“. Genau auf diese Lücke möchte der vorliegende Beitrag aufmerksam machen und erste Impulse für eine Veränderung setzen.“ (Quast 2021, 37)
Am Beispiel des Workshops „Zwischen Abstumpfung und Sentimentalität – wie gehe ich eigentlich mit menschlichen Überresten um?“ sollte experimentell die generelle Relevanz des Themas bei Studierenden geprüft werden und gleichzeitig ein Vorschlag gemacht werden, wie eine bewusste, institutionell organisierte Auseinandersetzung mit dem Umgang mit menschlichen Überresten auch in den Altertumswissenschaften curricular verankert werden könnte.
Der allgemeine Umgang mit dem Umgang mit
menschlichen Überresten
Konsens scheint in den bisherigen Veröffentlichungen darin zu bestehen, dass sich der Umgang mit menschlichen Überresten an den Bedürfnissen und gesellschaftlichen Normen der Lebenden orientieren sollte.5 Daraus kann eine Begründung ableiten werden, warum es in Deutschland noch kein verbindliches Regelwerk für den Umgang mit menschlichen Überresten gibt – Entscheidungen müssen oder sollten immer wieder neu begründet und situativ angepasst verhandelt werden.6
Die überwiegende Mehrheit der Veröffentlichungen, die sich mit dem Umgang mit menschlichen Überresten beschäftigen, nehmen auf die Empfehlungen zum Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen des Deutschen Museumsbundes aus dem Jahr 2013 Bezug. Dieser wurde durch die international steigenden Rückgabeforderungen angeregt (DMB 2013, 4–5). Daher wird in der Literatur der Umgang mit menschlichen Überresten bisher überwiegend aus dem Blickwinkel der Provenienz heraus diskutiert; diese Auseinandersetzung findet vorrangig im Rahmen von Museen-, Sammlungs- und Wissensgewinnungskontexten statt. In der erneuerten Fassung des Leitfadens (DMB 2021) werden die internationalen Perspektiven noch einmal verstärkt, der Fokus liegt nach wie vor auf der Sensibilisierung für Kolonial- und Unrechtskontexte und die sich daraus ableitenden Fragen nach einer Ethik in Rückgabe, Ausstellung, Sammlung, etc. – die universitäre Lehre findet, wie oben beschrieben, nur minimale Beachtung.
Dass die Begegnung mit menschlichen Überresten mit Emotionalität verbunden ist, scheint vor allem im musealen Bereich unstrittig:
„Ich bin mir ganz sicher, dass diese Ausstellung [Schädelkult – Kopf und Schädel in der Kulturgeschichte des Menschen] so auch besondere Gefühle weckt und Emotionen freisetzt.“ (Carnap-Bornheim 2012, 1)„Überreste von Menschen aus vergangenen Zeiten ziehen in Museen stets große Aufmerksamkeit auf sich […] Jeder Besucher hat seinen eigenen Körper zum Vergleich dabei und kann sich so in die Betroffenen hineinfühlen.“ (Wahl – Zink 2013, 80)„Vielfach wurde uns zurückgemeldet, dass gerade die menschlichen Mumien als berührend, aber auch als gruselig empfunden werden.“ (Landesmuseum Natur und Mensch 2022)
Zunehmend wird, unabhängig von der ethisch ausgerichteten Diskussion um die Ausstellung von menschlichen Überresten,7 für einen sensibilisierten Umgang mit Besuchenden plädiert, vor allem, wenn Mumien ausgestellt sind.8 Ein wichtiger Bestandteil dieses sensibilisierten Umgangs ist die Wahl den Besuchenden zu überlassen, ob sie sich menschliche Überreste anschauen möchten; separate Räume und entsprechende Beschilderung wahren die echte Wahlmöglichkeit (vgl. Landesmuseum Natur und Mensch 2022).
In Menschliche Überreste im Depot. Empfehlungen für Betreuung und Nutzung – eine Schrift aus der anatomischen Lehrsammlung angesiedelt an der Hochschule für Bildende Künste Dresden – wird darauf hingewiesen, dass Mitarbeitenden dieselbe Fürsorge entgegengebracht werden sollte wie den Museumsbesuchenden; die Arbeitgebenden von Sammlungen werden aufgefordert Maßnahmen zu ergreifen, um Angestellte zu unterstützen mit emotionalen Herausforderungen bei der Arbeit mit menschlichen Überresten gut umgehen zu können:
„[Eine negative Reaktion auf menschliche Überreste] ist grundsätzlich eine völlig normale menschliche Reaktion. Für medizinische Präparator*innen und Mediziner*innen gehört eine Auseinandersetzung damit zur Ausbildung. Gerade Mitarbeiter*innen aus anderen Disziplinen [Anm. d. Verf.: gemeint sind auch explizit archäologische Disziplinen] können aber überfordert sein.“ (Fuchs u. a. 2021, 14)
Dieser Gedanke wird vom aktuellen Leitfaden 2021 direkt aufgegriffen und zu Beginn des Kapitels „Praxishilfe“ unter der Überschrift „Allgemeine Empfehlungen“ um praktische Vorschläge erweitert:
„Darüber hinaus ist zu bedenken, dass Mitarbeiter*innen, die direkt an und mit menschlichen Überresten arbeiten, aufgrund von kulturellen, religiösen oder persönlichen Aspekten emotionalen Stress entwickeln können. Hier sollte das Museum/die Sammlung Möglichkeiten anbieten, die das Wohlbefinden unterstützen (z. B. Benennung von Vertrauenspersonen, fachlicher Austausch, Aufgabenteilung).“ (DMB 2021, 26)
Auf der anderen Seite wird jedoch archäologisch arbeitenden Personen meist diese Art der Emotionalität im Umgang mit menschlichen Überresten aus den eigenen Reihen abgesprochen: „Normalerweise gibt es gegenüber den Verstorbenen zunächst keine persönliche Betroffenheit mehr“ (Dietrich 2013, 117; mehr dazu im Exkurs: „Hier sind Sie falsch“).9
Aus diesem angenommenen Fehlen der Betroffenheit resultiert die bisher einzige Art von publizierten Sorgen um die studentische Emotionalität bzw. deren Fehlen: so konzentrieren sich Beiträge in Hinblick auf den Umgang von Studierenden mit menschlichen Überresten vor allem auf die Versachlichung derer, welche zu einem despektierlichen Umgang (vgl. Kleinhubbert 2021, 106) mit und einem geringschätzigen Verhalten (vgl. Grupe u. a. 2015, 16) gegenüber menschlichen Überresten führe. Auch Quast (2021, 37) benennt bei seinem Beitrag zur archäologischen Ethik unter der Überschrift „Wie gehen wir eigentlich mit menschlichen Überresten um?“ zunächst „Lehrgrabungen“, die viele Archäolog*innen kennen würden, bei denen „Skelette mit Sonnenbrille und Mütze fotografiert werden“ – um anschließend zu korrigieren: „Diesen respektlosen Umgang mit menschlichen Überresten findet man aber nicht nur auf Lehrgrabungen.“ Die gewählte Rhetorik macht deutlich, wie stark moralisches Fehlverhalten in Bezug auf menschliche Überreste in der fachinternen Wahrnehmung in erster Linie mit Studierenden assoziiert wird. Ebenfalls wird in der Kommunikation mit der Öffentlichkeit fehlende Ethik und damit die einher gehende Objektifizierung als Problem des Nachwuchses identifiziert: „Gerade jüngeren Kollegen fehle es manchmal an Problembewusstsein […] Das Thema ‚Ethik‘ müsse im Studium künftig eine größere Rolle spielen. Auch er kennt Geschichten von despektierlichen Studentenfotos mit Schädeln oder Skeletten […]“ (Kleinhubbert, 2021, 106). Die Zusammenhänge scheinen eindeutig: wer sich respektlos verhält, ist Student*in – wer Student*in ist, verhält sich (vermutlich) respektlos.
Zu einem anderen Schluss kamen die Teilnehmenden aus dem Kassler Workshop der AG Theorien in der Archäologie und des Forum Kritische Archäologie im Jahr 2015 zum Thema „Ethik und Archäologie“ am Tisch 3: „Verantwortung vergangenen Subjekten gegenüber (kann es sowas geben, wenn ja, wie?)“: die Entfremdung und Verdinglichung von menschlichen Überresten sei ein direktes, wenn nicht sogar erwünschtes Ergebnis der aktuellen Ausbildungspraxis (vgl. Schreiber u. a. 2018, 348). Bemerkenswerterweise werden bis dato Reaktionen wie Betroffenheit, Berührungsängste oder andere emotionale Belastungen, die bei anderen Personengruppen (z. B. Museumsbesuchenden) bereits anerkannt und zunehmend berücksichtigt werden, in der Literatur nicht im Hinblick auf Studierende thematisiert.
„Zwischen Abstumpfung und Sentimentalität“ – Aufbau des Workshops
Dank der freundlichen Unterstützung des Kursleiters Morten Hegewisch hatte ich am 15.06.2022 die Möglichkeit, mit Studierenden der Freien Universität Berlin den Workshop „Zwischen Abstumpfung und Sentimentalität – wie gehe ich eigentlich mit menschlichen Überresten um?“ thematisch abgestimmt im Kontext der Gräberarchäologie, eingebettet in das wöchentliche Pflichtseminar „Übung zum Grundkurs 1. Jahrtausend n. Chr.“, durchzuführen. Der Workshop war für Bachelorstudierende der Prähistorischen Archäologie konzipiert. An der Vorabbefragung via Onlinetool umfrageonline nahmen 16 Studierende teil.10 Neben demographischen Fragen, wurden folgende Items erhoben:
- „Ich möchte in meiner zukünftigen Karriere Kontakt mit menschlichen Überresten haben“ – 1 = ich stimme überhaupt nicht zu, 5 = ich stimme vollkommen zu
- „Ich werde in meiner zukünftigen Karriere Kontakt mit menschlichen Überresten haben“ – 1 = ich stimme überhaupt nicht zu, 5 = ich stimme vollkommen zu
- „Wie schätzt du die erste Begegnung mit menschlichen Überresten ein?“ – Problematisch, neutral, absolut kein Problem
Zum Workshop-Termin waren achtunddreißig Bachelorstudierende in Präsenz anwesend, welche sich im zweiten oder vierten Fachsemester befanden und großteilig Prähistorische Archäologie im Kernfach studierten. Der Workshop nutzte die vollen 90 Minuten des Kurses.
Als übergeordnetes Lernziel wurde die kritische Reflexion der Studierenden über den (eigenen) Umgang mit menschlichen Überresten gesetzt. Aufgebaut war der Workshop wie folgt:
- Vergleich menschliche Überreste im Medizinstudium vs. Archäologiestudium (frontaler Input)
- I. Unterschiede zwischen menschlichen Überresten und archäologischen Funden & II. Wie könnten diese Unterschiede unseren Umgang beeinflussen? (Plenum)
- Wem gegenüber habe ich – als archäologisch tätiger Mensch – Verantwortung in Bezug auf den Umgang mit menschlichen Überresten (Murmelgruppe, anschließend Antworten auf Sticky Notes geclustert)
- Anregung: Pressebeitrag „Knochen im Blumentopf“ - Resilienz in der archäologischen Praxis (Frontaler Input mit interaktiven Elementen)
- Synonyme zu menschlichen Überresten und deren Kontext (Plenum)
- Feedback zum Workshop, insbesondere zur Thematik „emotionaler Umgang mit menschlichen Überresten im Curriculum“ (Plenum)
Umfrage
In der Vorabbefragung nahmen 42 % (16 von 38) der Studierenden teil, sodass von einer Verzerrung (Selfselection Bias) der Ergebnisse auszugehen ist. Es ist anzunehmen, dass v. a. anthropologisch interessierte Studierende teilgenommmen haben. Die Antworten der einzelnen Erhebungen zeigten dennoch eine ausgeprägte Heterogenität, die zu einer annähernden Gleichverteilung bei den einzelnen Items führte.
Einige Studierende wünschen sich viel Kontakt zu menschlichen Überresten in ihrer zukünftigen Karriere, einige wünschen sich kaum bis gar keinen Kontakt zu menschlichen Überresten haben zu müssen.11 Unabhängig von den persönlichen Präferenzen erwartet jedoch jede teilnehmende Person im späteren archäologischen Berufsleben mit menschlichen Überresten konfrontiert zu sein.12 Bei der Einschätzung, wie herausfordernd die Begegnung mit menschlichen Überresten empfunden wird, war die Verteilung ebenfalls nahezu gleichmäßig: Einige schätzten diese als „problematisch“ (n=4), andere als „neutral“ (n=6) und wiederum andere als „absolut kein Problem“ (n=5) ein. Die Umfrage zeigt trotz kleiner Stichprobe, dass die Erwartungen, Erfahrungen und die emotionale Bewertung des Umgangs mit menschlichen Überresten bei Studierenden stark variierten.
Verlauf des Workshops
Vergleich menschliche Überreste im Medizinstudium vs.
Archäologiestudium
Bereits der erste Abschnitt führte zu einer regen Diskussion, welche während des Feedbacks am Schluss des Workshops fortgesetzt wurde. Die generelle Vergleichbarkeit von menschlichen Überresten aus der Humanmedizin und der Archäologie wurde in Frage gestellt.13 Insbesondere die Anwendung der Menschenwürde wurde in Relation von zeitlichem Abstand des Versterbens, Anonymität, Verwesungsgrad und Fragmentierung diskutiert – der Wunsch nach klaren, objektiven Grenzen war Outcome dieser Diskussion sowie der Tenor, dass Menschenwürde nicht universell auf jeden Überrest menschlicher Herkunft anzuwenden sei.14
Präsentation der Umfrageergebnisse
Das Item „Wie schätzt du die erste Begegnung mit menschlichen Überresten ein? – Problematisch, neutral, absolut kein Problem“ wurde diskutiert, da diese Bewertung nicht per se vorzunehmen sei, sondern situativ. Die Studierenden berichteten, dass menschliche Überreste – unabhängig von der bereits gemachten Erfahrung – für sie nicht generell „problematisch“ seien, es jedoch Umstände gegeben hätte, die sich für sie als problematisch dargestellt hätten oder von denen sie erwarten sich als problematisch darzustellen. Konkret genannt wurden: NS-Kontexte, Kindergräber, Kontexte, die mit eigenen Erfahrungen assoziiert wurden (z. B. kürzlich verstorbener Großvater – Freilegung eines Skelettes eines älteren Mannes).
Die Wortmeldungen folgten einem gemeinsamen Schema: Verständnis für die persönlichen Schilderungen, Bericht von ähnlichen eigenen Erfahrungen, dann folgte eine Exkludierung – die genannten Kontexte wurden als „Ausnahmefall“ deklariert. In den Erläuterungen der Studierenden ließ sich eine soziale Erwünschtheit wahrnehmen, die vorgibt, dass der „Normalfall“ von archäologische Fachpersonen als „neutral“ oder „kein Problem“ bewertet wird und somit emotionale Belastungen nur in Verbindung mit „Ausnahmefällen“ vorkämen.15
Bemerkenswert ist die während der Diskussion getätigte Implikation, dass im Kontext dieser „Ausnahmefälle“ selbstverständlich „anders“ agiert würde und sie daher von der allgemeinen Betrachtung zum Umgang von menschlichen Überresten auszuklammern seien.16
I. Unterschiede zwischen menschlichen Überresten und archäologischen Funden &
II. Wie könnten diese Unterschiede unseren Umgang beeinflussen?
Obwohl bereits der Titel „Zwischen Abstumpfung und Sentimentalität“ auf die emotionale Dimension verweist und diametral die anzunehmenden gängigsten Extreme im emotionalen Umgang benennt, erwarteten die Studierenden eine anthropologisch-methodische bzw. biologisch-inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Umgang mit menschlichen Überresten, was während des Feedbacks artikuliert wurde, jedoch bereits im Verlauf des Workshops an unterschiedlichen Stellen offenbar wurde. Am deutlichsten war dies in diesem Abschnitt der Plenumsdiskussion zu beobachten: die Aufgabe, Unterschiede zwischen menschlichen Überresten und anderen archäologischen Fundkategorien zu benennen und im zweiten Schritt zu überlegen, inwiefern diese Unterschiede unseren Umgang beeinflussen könnten, wurde mit Feldmethoden zur Abgrenzung von Knochen zu Holz oder Keramik beantwortet.
Wem gegenüber habe ich – als archäologisch tätiger Mensch –
Verantwortung in Bezug auf den Umgang mit menschlichen Überresten?
Die empfundenen Verantwortlichkeiten der Studierenden konnten zu folgenden Clustern zusammengefasst werden: vergangene Kulturen, Wahrheit, Amt, Öffentlichkeit, Wissenschaft, sich selbst. Besonders die Verantwortung gegenüber den damaligen Menschen und deren Kultur wurde in überwältigender Mehrheit genannt. Übereinstimmend vertraten die Studierenden in diesem Abschnitt das deutliche Selbstverständnis vom Idealbild der Archäolog*innen und der Disziplin Archäologie als Fürsprecherin/Vertreterin/Anwältin der Toten. Dies führte zu einer Diskussion über den mutmaßlichen Willen der Toten, über Re-Bestattung und damit schließlich über die Reproduktion von Unrechtskontexten.17
Resilienz in der archäologischen Praxis
Mit dem Blick auf „Verantwortung für sich selbst“ wurde das Konzept der Resilienz besprochen und wie die einzelnen Säulen (Soziales Netzwerk, Akzeptanz, positive Emotionen, Optimismus, positive Selbstwahrnehmung, Kontrollüberzeugung, Selbstwirksamkeitserwartung) für den archäologischen Alltag interpretiert werden können. Absicht war hierbei, den Studierenden Werkzeuge an die Hand zu geben, um die eigene psychische Widerstandsfähigkeit verbessern zu können und belastende Situationen verarbeiten zu können. Dieser Abschnitt wurde als hilfreich und innovativ bewertet.
Synonyme zu menschlichen Überresten und deren Kontext
Die Angemessenheit der gegebenen Bezeichnungen: „menschliche Überreste“, „Tote“, „Verstorbene“, „Individuum“, „Skelett“, „Knochenmann“, „Leiche“, „die von uns Gegangenen“, „unsere Vorfahren“, „Menschen“ wurde der Aufgabe nach rege diskutiert. Die Studierenden stellten fest, dass die individuelle Bewertung desselben Wortes teilweise stark auseinander ging. Ferner wurde deutlich, dass trotz des objektiven Anscheins über geeignete und ungeeignete Terminologie im Wissenschaftskontext zu entscheiden, diese Aufgabe stark von persönlichen Emotionen geprägt war.18 In diesem Abschnitt wurden ebenfalls, vor allem durch die als unpassend empfundenen Begriffe assoziiert, Erlebnisse aus dem Studium oder Grabungen lebhaft geteilt.
Feedback
Um zu beleuchten, ob es im Interesse der Archäologiestudierenden sei, über ihren persönlichen Umgang mit menschlichen Überresten im universitären Kontext zu sprechen, wurde dem Feedback viel Zeit eingeräumt. Die Meinungen der Studierenden waren gemischt. Es lassen sich verschiedene Meinungscluster ausmachen:
- Studierende, die andere Themen als wichtiger erachteten und deswegen diesen den Vorrang aufgrund der begrenzten Studienzeit geben würden: z. B. Methoden der Anthropologie, Ausgrabungsmethoden von menschlichen Überresten, Möglichkeiten und Interpretation von naturwissenschaftlichen Methoden an menschlichen Überresten (DNA, Isotopenanalyse, Histologie),
- Studierende, die sich gewünscht haben, mit einem allgemein gültigen Regelwerk für ethisches Verhalten den Workshop zu verlassen,
- Studierende, die von der eingangs angesprochenen Parallelisierung zum Medizinstudium anhaltend irritiert waren,
- Studierende, die den Standpunkt vertraten, dass das Innenleben der Forschenden für die künftige Arbeit irrelevant bzw. im Privaten zu diskutieren sei,
- Studierende, die noch nicht mit menschlichen Überresten in Berührung gekommen waren, die den Workshop als persönlich gewinnbringend empfanden und zurückmeldeten, dass sie bisher davon ausgingen, menschlichen Überresten wie Artefakten zu begegnen, was sie angeregt durch den Workshop hinterfragten,
- Studierende, die mit menschlichen Überresten bereits Kontakt hatten, die Reflektion der eigenen emotionalen Reaktionen auf menschliche Überreste als längst überfällig bewerteten, da sie selbst entweder zu einer Versachlichung neigten oder irritierendes, weil respektloses Verhalten von anderen Personen erlebt hatten.
Festzuhalten ist, dass keine einzige Person auf Nachfrage angab, solche ethischen, emotionalen oder persönlichen Überlegungen in Bezug auf menschliche Überreste bereits im Curriculum diskutiert zu haben.
Diskussion und Ausblick des Workshops
Ziel des Workshops war es, die Studierenden dazu anzuregen, sich mit ihrem Umgang mit menschlichen Überresten bewusst auseinander zu setzen. Dies dürfte erreicht worden sein. Zudem ist für die Studierenden durch den gemeinsamen Austausch während des Workshops deutlich geworden, dass ein breites Spektrum an Erfahrungen, Erwartungen und Umgangsstrategien mit menschlichen Überresten existiert. Das gegenseitige Verständnis für Verhaltensweisen oder Empfindungen, die von den eigenen abweichen, wurde hoffentlich durch diesen Workshop gestärkt und zur gegenseitigen Rücksichtnahme sensibilisiert. Ferner kann als erwünschter Nebenbefund verzeichnet werden, dass sich auch Personen im Umfeld dieses Workshops ebenfalls zur Reflexion und zum Austausch des eigenen Umgangs und der eigenen Erfahrungen mit menschlichen Überresten eingeladen fühlten.
Deutlich zeigte sich jedoch, dass ein einzelner neunzig-minütiger Workshop in keiner Weise ausreichend ist, um den (eigenen) Umgang mit menschlichen Überresten annähernd zufriedenstellend zu diskutieren, da allein der nötige Perspektivwechsel der Studierenden auf sich selbst und die eigene Emotionalität fokussierend im universitären Kontext einiger Hinführung und ausreichender Rekapitulation bedarf.
Vermutlich gelänge der Einstieg besser, wenn die Bewertung der synonym verwendeten Bezeichnungen für menschliche Überreste am Anfang stehen würde, da die Wahl der Terminologie an die Lebensrealität der Studierenden direkt anknüpft und die Relevanz offensichtlich ist. Außerdem wurde deutlich, dass bei der Begründung, sich für oder gegen Bezeichnungen auszusprechen, zwangsläufig die eigene emotionale Assoziation eine große Rolle spielt. Zudem ist bei einer Wiederholung oder der Konzipierung einer ähnlichen Veranstaltung zu überlegen, ob und in welchem Ausmaß der Vergleich mit dem Humanmedizinstudium geführt werden sollte.
Ferner fiel auf, dass sich in der Auseinandersetzung mit menschlichen Überresten verschiedene Betrachtungsebenen miteinander vermischen, welche teilweise gegeneinander ausgespielt wurden. Diese müssten zunächst präziser definiert werden, um den Diskurs zu schärfen:
- Ist die generelle Arbeit mit menschlichen Überresten gemeint oder sprechen wir über punktuell auftretende Situationen in speziellen Kontexten?
- Adressiert der emotionale Umgang mit menschlichen Überresten ausschließlich die Betroffenheit und Belastung von Archäolog*innen oder kann unter diesem Titel auch die Diskussion um Sensibilisierung und um den respektvollen Umgang im Zuge einer De-Objektifizierung geführt werden?
- Wen adressieren wir konkret, wenn wir von Verantwortung und Rücksicht im Augenblick des geführten Arguments sprechen: Verantwortung gegenüber den menschlichen Überresten, anderen anwesenden Personen, anderen nicht anwesenden Personen?
- Sprechen wir über persönliche emotionale Aspekte oder über eine allgemeingültige Ethik?
- Thematisieren wir die Arbeit im Feld, die Lehre in universitären Räumen oder die Kommunikation mit der Öffentlichkeit?
- Welche Konsequenzen haben diese Unterscheidungen?
Ein weiteres wichtiges Ergebnis des Workshops wurde in dessen Umgebung erzielt: In den vorbereitenden und begleitenden Gesprächen, welche mit zahlreichen, archäologisch arbeitenden Personen, die an unterschiedlichen Punkten ihrer Karriere stehen, geführt worden sind, zeigte sich ein bemerkenswertes Muster: Jede archäologisch tätige Person erzählte unaufgefordert von einer oder mehreren Begebenheiten im Kontext mit menschlichen Überresten, welche sie nachhaltig emotional berührt hatte. Die Mehrzahl dieser prägenden Erlebnisse fanden im Studium oder den frühen Karrierejahren statt.
Dabei war Irritation die verbindende Emotion – die erzählenden Personen waren dabei aber von den menschlichen Überresten selbst am wenigsten irritiert, sondern vom Umgang mit ihnen durch Lehrende, Vorgesetzte oder der Peer-Group. Konkret wurde berichtet von unvorbereiteten, stellenweise unangemessenen Konfrontationen mit menschlichen Überresten in Lehrräumen, von Sorg- und Verantwortungslosigkeit in der Handhabung mit menschlichen Überresten, von starken emotionalen Reaktionen auf menschliche Überreste oder deren Kontexte von Kommiliton*innen oder anderen anwesenden Personen.
Ähnliche Erfahrungen wurden auch im Kassler Workshop gemacht: „Die Diskussionen waren stark von den persönlichen Erfahrungen und studien- bzw. berufsbedingten Irritationen geprägt“ (Schreiber u. a. 2018, 347).
Deutlich wurde außerdem, dass die Ablehnung von Graböffnungen („Ich möchte keine Gräber und Toten ausgraben“) bei Kolleg*innen auf vehementes Unverständnis stoßen (vgl. Schreiber u. a. 2018, 347).
Vergleichbares berichteten auch die Archäolog*innen im Umkreis des „Zwischen Abstumpfung und Sentmentalität“ Workshops: ihre gezeigte Unsicherheit – oft resultierend aus der Irritation, und/oder Betroffenheit bzw. Befangenheit – sei meist mit Druck und Unverständnis aus dem archäologischen Umfeld begegnet worden. Sätze wie „Da sind Sie in der Archäologie aber falsch“ beantworten seit Jahrzehnten bis in die Gegenwart anhaltend vor allem studentisch kommuniziertes Unwohlsein sowie Zögerlichkeit in der Begegnung mit menschlichen Überresten.
Sorge zu äußern zur Umgangsweise mit menschlichen Überresten wird offenbar als Hinweis interpretiert, dass diese Person für eine Karriere in der Archäologie ungeeignet sei – diese angenommene Kausalität scheint derart als Konvention wahrgenommen zu werden, dass sie Eingang in die Literatur gefunden hat:
„‚Ich möchte aber nach meinem Tod nicht in einer Vitrine im Museum liegen‘, zeigt die hohe Betroffenheit – eben der Lebenden – bei der Diskussion dieses Themas. Ob diese Worte aus dem Mund einer Museumsleiterin für oder gegen das von ihr geleitete Museum sprechen, lasse ich mal offen.“ (Dietrich 2013, 117)
Nicht nur wird durch dieses Ad-hominem-Argument der Infragestellung der beruflichen Eignung deutlich, wie eng der nicht-emotionale Umgang mit menschlichen Überresten mit dem Selbstbild19 der Archäologie verwoben ist, sondern lässt Archäolog*innen befürchten eine Rufschädigung bei Beschäftigung mit dem als ‚unwissenschaftlich‘ etikettierten Thema zu erleiden. Besonders bei Studierenden sind diese sozialen Mechanismen eine starke Triebfeder, das eigene Verhalten dem vorgelebten Umgang mit menschlichen Überresten anzupassen und diesen nicht (laut) zu hinterfragen.
Dabei beklagt bereits Manfred K. H. Eggert (2006, 58) in seinem Grundlagenwerk Archäologie: Grundzüge einer historischen Kulturwissenschaft eine „Geringschätzung expliziter Selbstreflexion“ sowie „eine beunruhigende Kontinuität der uneingeschränkten […] nicht hinreichend reflektierten ‚Herrschaft des Faktischen‘“ innerhalb der Hochschullehre der Prähistorischen Archäologie.
Wichtig ist zu betonen, dass dieses sozial kreierte Tabu die emotionalen Reaktionen nicht etwa verhindert, sondern nur den Austausch darüber. Genau dieser fehlende Raum für den Austausch der eigenen Erfahrungen ist laut den Gesprächen der belastendste Faktor – nicht die Arbeit an den menschlichen Überresten selbst. Der Drang die eigenen Erlebnisse zu vergleichen, zu validieren, gegebenenfalls zu relativieren, Verständnis zu erhalten, allgemein zu diskutieren und sie damit letztendlich zu verarbeiten, ist so groß, dass diese Geschichten auch noch Jahrzehnte später, sobald sich eine sichere Gelegenheit bietet, geteilt werden.
Fazit: Eine neue sensible Professionalität
Dieser Beitrag hat sich der Frage gewidmet, ob und wie wir uns in den Altertumswissenschaften um menschliche Überreste, den Umgang mit diesen und um die Menschen, die damit arbeiten, sorgen müssen, sollen oder dürfen. Die Antwort darauf ist eindeutig: Die Sorge ist nicht nur berechtigt, sondern essenziell.
Die Zeitenwende in der Archäologie hin zu einem sensibilisierteren Umgang mit menschlichen Überresten, ausgehend von Kolonial- und Unrechtskontexten, hat bereits begonnen. Rücksicht, Empathie und Respekt werden im Umgang mit menschlichen Überresten und im Umgang mit den Menschen, die im Zusammenhang mit den menschlichen Überresten stehen, zunehmend als unverzichtbare Kernkompetenzen verstanden und zurecht in der Öffentlichkeit von Altertumswissenschaftler*innen eingefordert.
Abgesehen von Angehörigen der Herkunftskulturen oder anderen Personen, die mit Fragen der Provenienz im Zusammenhang stehen, bedenkt die wachsende Sensibilität momentan vor allem Besuchende musealer Ausstellungen und beginnend Mitarbeitende in Museen und Sammlungen. Studierende der Altertumswissenschaften, deren Wahlmöglichkeiten, ob sie mit menschlichen Überresten in Kontakt kommen wollen oder nicht, zudem äußerst eingeschränkt sind, finden in den bisherigen Überlegungen nur Platz, wenn das andere Ende des Spektrums, das respektlose Verhalten gegenüber menschlichen Überresten, angesprochen wird.
Obwohl menschliche Überreste in den archäologischen Fächern als Lern- und Wissenschaftsressource nicht weniger bedeutungsvoll sind als in der Humanmedizin, fehlt den Archäologien im Unterschied zu dieser ein systematischer, kritischer und offener Austausch zum Umgang damit. Der gegenwärtige archäologische Ausbildungshabitus hält traditionell bis dogmatisch, mindestens jedoch unreflektiert, daran fest, emotionale Fragen als unprofessionell zu etikettieren und damit als irrelevant abzutun.
Diese Haltung ist nicht länger tragbar. Der Workshop „Zwischen Abstumpfung und Sentimentalität – wie gehe ich eigentlich mit menschlichen Überresten um?“ hat aufgezeigt, dass Studierende an einer Diskussion von verschiedenen ethischen und persönlich-emotionalen Aspekten der Archäologie interessiert sind. Sie verinnerlichen jedoch bereits im frühen Stadium ihres Studiums soziale Erwartungshaltungen, die ihnen suggerieren, dass menschliche Überreste bei Fachpersonen – zu denen sie per Immatrikulation geworden sind – keine Emotionen auslösen sollten. Gleichzeitig wird von ihnen allerdings erwartet, emotional intelligent und integer zu handeln. Spätestens im Berufsleben sollen sie empathische Entscheidungen treffen können, in denen verschiedene ethische und teils emotionale Perspektiven verhandelt werden müssen – und zwar ohne dies jemals in einem geschützten Rahmen erprobt haben zu dürfen. Das ist ein offensichtlicher Widerspruch.
Die archäologische Lehre muss diesen Widerspruch auflösen, indem sie Reflexion und Austausch curricular ermöglicht, besser fördert oder bestenfalls fordert – denn nur eine neue sensible Professionalität, die emotionale Aspekte als integralen Bestandteil der Arbeit mit menschlichen Überresten anerkennt, kann verantwortungsvoll mit allen Menschen – auch den eigenen Studierenden – agieren und somit eine zukunftsfähige Archäologie gewährleisten.
FUSSNOTEN
- „Die Verwendung von archäologischen menschlichen Überresten ist ein nicht zu ersetzender Bestandteil jeglicher höheren Ausbildung […]. Ein Ersatz des originalen Materials, z. B. durch Modelle, ist […] nicht möglich“ (Grupe u. a. 2015, 32–33). „Gräber gehören zu den wichtigsten Quellengattungen der Archäologie. Früher oder später wird man während des Studiums auf der Ausgrabung mit Skeletten oder mit Leichenbrand konfrontiert“ (Quast 2021, 37).↑
- An der Charité Berlin wird dies u. a. über die Lehrveranstaltung „Einführung Präparierkurs“, 2. Fachsemester, Modul 08, Lehrformat: „Sicherheitsbelehrung“ realisiert; allgemein ist die verpflichtende Auseinandersetzung mit ethischen Aspekten im humanmedizinischen Curriculum international in der WMA Declaration of Helsinki festgehalten: „Medical research involving human participants must be conducted only by individuals with the appropriate ethics and scientific education, training and qualifications.“ (WMA 2024, General Principles 12); siehe auch Fuchs u. a. 2021, 14.↑
- „Die Arbeit an einer menschlichen Leiche kann sowohl faszinierend als auch verstörend sein. Sollte Ihnen der Präparierkurs anhaltende psychische Probleme bereiten, können Sie sich gern an die Lehrenden wenden oder auch die studentischen Hilfskräfte um einen ersten Rat fragen. Auch das Beratungsangebot von MediCoach (http://medicoach.charite.de) können Sie in einem solchen Fall nutzen.“ (CharitéCentrum für Grundlagenmedizin o. J., 31).↑
- Unter dem Abschnitt „Ausstellen und Vermitteln“ behandelt nur eine Überschrift „Dürfen menschliche Überreste für die wissenschaftliche Lehre genutzt werden?“ Belange der Hochschullehre (DMB 2021, 48).↑
- Rücksichtnahme auf die vermuteten Bedürfnisse der Verstorbenen wird zwar immer wieder als Diskussionspunkt ins Feld geführt, jedoch wird schlussendlich für die Beachtung der Bedürfnisse der Lebenden (und damit Leidensfähigen) plädiert; vgl. Schreiber u. a. 2018, 347–348; Grupe u. a. 2015, 17–18.↑
- Der Leitfaden des Deutschen Museumsbunds versteht sich als Hilfestellung für individuelle Entscheidungsprozesse vgl. DMB 2021, 6–10, s. a. 81; „Die Forderung ‚klare Regelungen‘ zu schaffen, ist bei der Vielzahl der denkbaren Fälle und Konstellationen unrealistisch. […] Vielmehr können sich die Verantwortlichen nicht ihrer Aufgabe entziehen, differenziert zu argumentieren, zu entscheiden und zu handeln“ (Dietrich 2013, 117–118).↑
- „In vielen Museen sind Mumien und Moorleichen Ausstellungs-Highlights. Entkleidet liegt der ‚Ötzi‘ in Bozen in einer Vitrine. […] sollten wir doch der Frage nachgehen, […] ob wir diesem […] Bedürfnis nicht tiefergehende Anregungen vermitteln können als die Zurschaustellung von Leichen.“ (Quast 2021, 37).↑
- „Daher lässt sich eine mehr oder weniger starke emotionale Wirkung der gezeigten menschlichen Überreste (vor allem, wenn sie als solche zu erkennen sind) nicht ausschließen und sollte bei der Konzeption von Ausstellungen grundsätzlich bedacht werden“ (DMB 2021, 46).↑
- Vgl. auch: „Eigentlich sollten wir damit in unserer aufgeklärt-abendländisch geprägten Kultur und auch im christlich-religiösen Empfinden kein Problem haben. Spätestens seit Descartes trennen sich mit dem Tod Leib und Seele“ (Schnalke 2018, 136).↑
- Die Befragung als auch der Workshop wurden im Stil des Peer-Teaching durchgeführt.↑
- [„Ich möchte in meiner zukünftigen Karriere Kontakt mit menschlichen Überresten haben“ – 1 = ich stimme überhaupt nicht zu, 5 = ich stimme vollkommen zu. 1 (n=1), 2 (n=4), 3 (n=3), 4 (n=6), 5 (n=2)].↑
- [„Ich werde in meiner zukünftigen Karriere Kontakt mit menschlichen Überresten haben“ – 1 = ich stimme überhaupt nicht zu, 5 = ich stimme vollkommen zu. 1 (n=0), 2 (n=5), 3 (n=4), 4 (n=5), 5 (n=2)].↑
- Dabei werden auch in der Literatur häufig Parallelen zur Humanmedizin gezogen, da z. B. archäologisch-anthropologische und medizinhistorische Belange eng, teils untrennbar, miteinander verknüpft sind, vgl. exemplarisch DMB 2021, 14, 33; vgl. auch Grupe u. a. 2015, 11 insb. Abb. 2.1; ferner dient der Hippokratische Eid oft als Beispiel für verbindlich geregelte berufliche Ethik vgl. bsp. WSVA 2011, 1–2.↑
- Vgl. hierzu „3.1.2 Würde, Pietät und Selbstbestimmung“ (Grupe u. a. 2015, 17–19).↑
- In der Literatur wird ebenso in Normal- und Ausnahmefall unterschieden: vgl. Dietrich 2013, 117; vgl. ferner Grupe u. a. 2015, 34. Hierbei sei erwähnt, dass für Prähistoriker*innen Knochen und Leichenbrand adulter Individuen zumeist als „normal“ und beispielsweise Mumien aller Art den „Ausnahmefällen“ zugeordnet werden.↑
- Meinen persönlichen Erfahrungen entspricht das nicht: Sowohl bei einer Grabung mit NS-Kontext, anthropologischer Arbeit an Kindergräbern/-knochen als auch in einem Museum, welches natürliche Mumien ausstellte, gab es keine Supervision, keine Vor- oder Nachbesprechung im Team, kein Gesprächsangebot von der Leitung. Ich habe auch in diesen „Ausnahme-Kontexten“ die gleichen Erfahrungen gemacht wie in „Exkurs: ‚Hier sind Sie falsch‘“ s. u. geschildert wird.↑
- „Wem gegenüber hat die Archäologie Verantwortung“ ist auch in der Literatur eine oft diskutierte Frage, vgl. Schreiber u. a. 2018, 347–348; Grupe u. a. 2015, 17–18.↑
- Die Frage der Terminologie wird in der Literatur ebenfalls mit Rücksicht auf die auslösbaren Emotionen geführt: „[…] zum Teil erschreckend ungeeignete Terminologie mancher Ausgräber“ (Grupe u. a. 2015, 16); vgl. auch Fuchs u. a. 2021, 9–10.↑
- Auch Quast erkennt im Umgang mit menschlichen Überresten eine Spiegelung des Selbstverständnisses der Archäologie (vgl. Quast 2021, 37).↑
LITERATUR
von Carnap-Bornheim 2012
Claus von Carnap-Bornheim, Editorial, in: Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen Schloss Gottorf – Claus von Carnap-Bornheim (Hrsg.), Das Magazin Schädelkult: Kopf und Schädel in der Kulturgeschichte des Menschen [im Rahmen der Sonderausstellung Schädelkult – Kopf und Schädel in der Kulturgeschichte des Menschen, Schleswig, 26. Mai bis 14. Oktober 2012] (Schleswig 2012) 1–4
Dietrich 2013
Reinhard Dietrich, Nicht die Toten, sondern die Lebenden: Menschliche Überreste als Bodenfunde, Archäologische Informationen 36, 2013, 113–119. DOI: 10.11588/ai.2013.0.15325
DMB 2013
Deutscher Museumsbund e.V., Empfehlungen zum Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen. <https://www.museumsbund.de/wp-content/uploads/2017/04/2013-empfehlungen-zum-umgang-mit-menschl-ueberresten.pdf> (24.01.2025)
DMB 2021
Deutscher Museumsbund e.V., Leitfaden Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen. <https://www.museumsbund.de/wp-content/uploads/
2021/06/dmb-leitfaden-umgang-menschl-ueberr-de-web-20210623.pdf> (24.01.2025)
Eggert 2006
Manfred K. H. Eggert, Archäologie: Grundzüge einer historischen Kulturwissenschaft (Tübingen 2006)
Fuchs u. a. 2021
Jakob Fuchs – Diana Gabler – Christoph Herm – Michael Markert – Sandra Mühlenberend, Menschliche Überreste im Depot. Empfehlungen für Betreuung und Nutzung. 2. Fassung (Berlin 2021). <https://wissenschaftliche-sammlungen.de/
files/4416/2140/5696/Menschliche_berreste_im_Depot_V2.pdf> (24.01.2025)
Grupe u. a. 2015
Gisela Grupe – Michaela Harbeck – George C. McGlynn, Prähistorische Anthropologie (Heidelberg 2015)
CharitéCentrum für Grundlagenmedizin o. J.
CharitéCentrum für Grundlagenmedizin (Hrsg.), Handbuch zum anatomischen Präparierkurs (Berlin o. J.) [nicht öffentliche Handreichung für Studierende der Charité Universitätsmedizin Berlin]
Kleinhubbert 2021
Guido Kleinhubbert, Wie kamen die Kinderknochen in den Blumentopf? Geschmacklose Bürodeko in Koblenzer Behörde, Der Spiegel 106,11, 2021. <https://www.spiegel.de/
wissenschaft/mensch/koblenz-wie-kamen-die-kinderknochen-in-den-blumentopf-der-landesarchaeologie-a-bca862de-0002-0001-0000-000176230944> (10.04.2025)
Landesmuseum Natur und Mensch 2022
Landesmuseum Natur und Mensch, Umgang mit menschlichen Überresten in der Sonderausstellung erhält positives Feedback. ArchaeologieOnline. <https://
www.archaeologie-online.de/nachrichten/umgang-mit-menschlichen-ueberresten-in-der-sonderausstellung-erhaelt-positives-feedback-5416/> (22.01.2025)
Quast 2021
Dieter Quast, Wie gehen wir eigentlich mit menschlichen Überresten um? 100. DGUF Newsletter vom 12.5. 2021, Nr. 5,1, <https://www.dguf.de/fileadmin/user_upload/
Newsletter-Archiv/dguf-dok_100_newsletter_2021-05-12.pdf> (11.04.2025)
Schnalke 2018
Thomas Schnalke, Human turn? Zum Umgang mit Präparaten der universitären Sammlung der Charité im Berliner Medizinhistorischen Museum, in: Hochschule für Bildende Künste Dresden – Sandra Mühlenberend – Jakob Fuchs – Vera Marušić (Hrsg.), Unmittelbarer Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Universitätssammlungen. Stimmen und Fallbeispiele (o. O. 2018) 134–140. URN: nbn:de:bsz:14-qucosa2-333089
Schreiber u. a. 2018
Stefan Schreiber – Carolin Jauß – Stephanie Merten – Martin Renger – Georg Cyrus – Vera Egbers – Dominik Bochatz – Philipp Tollkühn – Raimund Karl, Archäologie braucht Ethik! Ein Werkstattbericht als Diskussionsaufruf, Archäologische Informationen 41, 2018, 341–370. DOI: 10.11588/ai.2018.0.56954
Wahl – Zink 2013
Joachim Wahl – Albert Zink, Einleitung, in: Joachim Wahl – Aalbert Zink (Hrsg.), Karies, Pest und Knochenbrüche: Was Skelette über Leben und Sterben in alter Zeit verraten. Archäologie in Deutschland Sonderheft 3 (Darmstadt 2013) 7–9
WMA 2024
World Medical Association, Declaration of Helsinki – Ethical Principles for Medical Research Involving Human Participants (o. O. 2024). <https://www.wma.net/policies-post/wma-declaration-of-helsinki/> (22.01.2025)
ZITIERVORSCHLAG