Sorge(n) des Lebens. Eine Einleitung

Stefan Schreiber und Monika Zöller-Engelhardt

Eine der weitreichendsten Herausforderungen in der Gegenwart und Vergangenheit stellt der Erhalt und die angemessene Ausgestaltung des Lebens dar. Leben war und ist immer riskantes und vulnerables Leben. Es ist in all seinen Facetten ständig Gefährdungen, Einschränkungen, Verletzungen und Unsicherheiten ausgesetzt. Diese reichen von Gefahren der Geburt, des Aufwachsens, des Arbeitslebens, des Krankseins, der Gewalt, des Alterns bis hin zu jenen jederzeit auftretenden Risiken des Sterbens. Zugleich ist es nicht nur in biologischen und körperlichen Dimensionen vulnerabel. Gefährdungen treten ebenso in sozialen, kulturellen, imaginierten und politischen Dimensionen auf. Dadurch sind z. B. auch Aspekte der Ausgrenzung und Diskriminierung, des Nachlebens im Jenseits, der Erinnerung, Würdigung und des Vergessens Herausforderungen riskanten Lebens. All diesen Herausforderungen wird häufig mit Sorge(n) begegnet.

Solches ‚Sorgen‘ meint sowohl ‚Sorgen machen‘ als auch ‚Umsorgen‘ und dient dazu, das Leben abzusichern, Risiken zu vermindern oder bereits eingetretene Gefährdungen in ihren Auswirkungen zu minimieren, zu revidieren oder die Betroffenen zu begleiten. Zugleich steht es für die Ungewissheit kommender Risiken und Gefahren, wobei wir unter Risiken nach Anna Henkel u. a. (2016) konkret einschätzbare Ausschnitte der Zukunft deuten, während Gefahren einen eher diffusen zukünftigen Horizont abdecken, auf den mit generalisierten Handlungen wie Hoffnung, Mut, Vorsicht oder Gelassenheit als Coping-Strategien reagiert werden kann. ‚Sorgen‘ verstehen wir somit als weiten Begriff für jene dem Leben zugewandten, verbundene und affirmativen Umgangsweisen, die es schützen, hegen und sichern sollen. Diese Umgangsweisen sind damit ein zentraler Bestandteil des Zusammen-Lebens. Zugleich sind Sorge- und Pflegepraktiken, wie gerade die kürzlich veröffentlichte Studie über die erfolgreiche Amputation eines Beines/Fußes vor 31.000 Jahren in Borneo zeigt (Maloney u. a. 2022), bereits sehr weit in der Vergangenheit fassbar. Sorgende Praktiken rahmen das Leben und beginnen oft bereits vor der Geburt. Sie enden jedoch nicht unbedingt mit dem Tod. Denn gerade die Nachsorge für die Toten und die damit verbundenen Vorstellungen von Jenseits, Transzendenz und Transformation stellen Bewältigungs- und Konzeptualisierungspraktiken dar. Jene können dazu dienen, dem Tod seine existentielle Endgültigkeit zu entziehen und das Wissen um die eigene Sterblichkeit im jetzigen Sein erträglicher zu machen (vgl. Assmann 2010, 3–11). Zugleich begegnet Sorge aber nicht nur Herausforderungen des riskanten Lebens, sondern kreiert selbst wiederum Herausforderungen, sei es durch begrenzte Ressourcen, ethische Fragen oder praktische Einschränkungen, die neue, riskante Formen des Lebens produzieren können.

Dabei bilden ‚Sorge‘ und ‚Sorgen‘ eng verwandte Felder sozialer und individueller Handlungsfelder heraus, die von engen ritualisierten Abläufen, ambivalenten Praktiken bis hin zu Zugangs- und Existenzweisen sozialen Miteinanders reichen können. Diese werden in unterschiedlichen Disziplinen untersucht und konzeptualisiert. Im Rahmen unserer Publikation verbinden wir diese disziplinären Konzeptualisierungen miteinander und gehen erste Schritte für die Entwicklung eines breiten interdisziplinären Zugangs zu Sorge(n). Mit dem Konzept der Sorge bzw. des Sorgens wecken wir durch die unterschiedlichen Beiträge, die unsere Publikation versammelt, verschiedene Assoziationen und verknüpfen dadurch Wissen(schaft)sfelder produktiv. Einerseits ist Sorge(n) ein wesentlicher Aspekt von Herausforderungen, die in Analysebegriffen wie Bewältigung, Krisenmanagement, Resilienz, Vorbeugung, Achtsamkeit positiv aufgerufen wird. Andererseits kann ein ‚sich sorgen‘ als ein Verlust der Sicherheit, der Erwartbarkeit des Kommenden angesehen werden und stellt auch dadurch eine untrennbare Verbindung mit Herausforderungen dar. Daher regt die Janusgestalt des Begriffs Sorge als einer „positiv-umsichtigen Pflege ebenso wie einer negativ-paralysierenden Zukunftsangst“ (Henkel u. a. 2016, 21; vgl. auch Folkers 2020) zur Erkundung dieser Paradoxien ein, da diese ursächlich zusammenhängen.

Wenn wir Herausforderungen des Lebens als Zeiten der Unsicherheit über Möglichkeiten des Weiter- und Überlebens, des ‚richtigen‘ Lebens verstehen, dann kann Sorge(n) die Art sein, diese Herausforderungen als bewältigbar wahrzunehmen, zu konzeptualisieren und letztlich zu lösen. Sorge ist dabei eine komplexe Weise der Weltbeziehung – der Zugewandtheit zur Welt. Ausgehend vom lateinischen curare erscheinen uns ‚Sorge(n) des Lebens‘ als stimulierender Ausgangspunkt, Herausforderungen in ihrer Komplexität weiter zu denken. Mögliche Unsicherheiten des Kommenden sollen versichert – umsorgt – werden. Gesundheit soll dabei ebenso abgesichert werden, wie die Seelsorge und Totenfürsorge Verstorbene über ihr Leben hinaus begleitet und sicherstellt. Die Sorgen des Zusammenlebens führen zu individuellen oder kommunalen Strategien bis hin zu staatlichen Regulierungen oder institutionalisierter Care-Arbeit.

Die im Rahmen des initialen gleichnamigen Workshop und der Living Publication diskutierten Ansätze loten aus, welche Aspekte von Sorge/ Fürsorge/Vorsorge/Umsorgung sich in unterschiedlichen vormodernen Gesellschaften nachweisen lassen. Sie widmen sich Fragen der Übertrag-barkeit moderner Konzepte widmen und beleuchten anhand von Fallbei-spielen, Thesen, Kurzabhandlungen und theoretischen Überlegungen Sorge-praktiken einzelner früher Kulturen. Als Ausgangspunkt der Beiträge bot sich in Anlehnung an den Forschungsschwerpunkt „Dimensionen der Sorge“ des Evangelischen Studienwerks Villigst an, das Thema in drei Schwerpunkte unterteilen (Henkel u. a. 2016, 21), an denen sich die Beiträge grob orientieren:

1. Sorge um sich: Selbst(für)sorge (epiméleia heautoû bzw. cura sui), Technologien des Selbst (vgl. Folkers 2020, Foucault 2005 [1984]), aber auch Gesundheitsvor- und -nachsorge sind Ansätze, die diesen Schwerpunkt bilden. ‚Sorge um sich‘ muss dabei nicht individuell sein, sondern auch Gemeinschaften sorgen sich um ihr (Über-)Leben. Zugleich ist Sorge um sich immer auch auf Herausforderungen der Um- und Mitwelt bezogen; sie löst sich also nicht in der Selbstbetrachtung auf.

2. Sorge um Andere: Das Kümmern, Sorgen, Pflegen, aber auch kommunale Sorge, Fürsorge, Nachsorge und Seelsorge sowie wechselseitige Sorge-Beziehungen sind Erscheinungen der Sorge um Andere. Zugleich prägen Empathie, Mitgefühl und Angst, Unsicherheit und Unwägbarkeit die Art der Hin- und Zuwendung zu Anderen. In der Vergesellschaftung und Externalisierung von Sorge als Sorge um Andere werden zudem Herrschaftsweisen geschaffen, da Herrschaft von verschiedensten Interessen-gruppen als Sicherheitsgarant angeführt wird.

3. Sorge um die Umwelt: Gerade die Klimakrise zeigt, dass die Sorge um Umwelten, seien sie urban oder rural, Landschaften oder Städte, lokale oder globale ökologische Zusammenhänge, vordringliche Herausforderungen darstellen. Dabei ist die Sorge um die Umwelt nichts Neues, sondern bereits in zahlreichen vormodernen Zusammenhängen sichtbar. Diese Sorgepraktiken für das ‚nicht-menschlich Andere‘ (Puig de la Bellacasa 2017) gilt es mit diesem Schwerpunkt zu erkunden.

Während Henkel u. a. (2019, 9–10) diese Dimensionen der Sorge bereits um drei essentielle rahmengebende Ebenen (Ausstattung des Individuums, Situation der Sorge-Beziehung, kultureller Rahmen) erweitert haben, erbrachte der initiale Workshop „Sorge(n) des Lebens“ zusätzliche Perspektiven, die sich nicht auf vormoderne Gesellschaften beschränken. „Sorge um Andere“ erfuhr die Erweiterung „Sorge um Andere(s)“, da Sorge-Relationen sich unseres Erachtens auch in Mensch-Ding-Beziehungen manifestieren. Neben „Sorge um die Umwelt“ explorieren wir auch „Sorge um das Leben“, was beispielsweise die Einbeziehung theoretischer Betrachtungen zu neo-vitalistischen Denkfiguren erlaubt. Hierdurch wird der Sorge-Begriff nicht zu stark beschränkt und ermöglicht die Analyse des Phänomens in holistischen Ansätzen.

Die folgenden Beiträge gehen zu einem großen Teil auf den initialen Workshop Sorge(n) des Lebens. Herausforderungen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus Sicht der Ancient Studies zurück, der am 1. Juli 2022 in Mainz im Rahmen des Profilbereichs 40,000 Years of Human Challenges stattfand. Wir haben bewusst das Format der Living Publication gewählt, um verschiedene mediale Beitragsformen, aber auch später hinzukommende weitere Beiträge einbinden zu können.

DANKSAGUNG

Wir danken allen Teilnehmenden des Workshops für ihre Vorträge und die Diskussionsrunden sowie besonders Prof. Dr. Gesa Lindemann für ihren inspirierenden Keynote-Vortrag. Ebenfalls gilt unser Dank Univ.-Prof. Dr. Ursula Verhoeven-van Elsbergen, Leiterin des Arbeitsbereichs Ägyptologie der JGU, für die großzügige Unterstützung des Workshops sowie den wissenschaftlichen Hilfskräften Denise Koch und Conrad Nilles für ihren Einsatz. Zudem gilt unser Dank dem Profilbereich Challenges für die organisatorische und finanzielle Unterstützung.

LITERATUR

Assmann 2010
Jan Assmann, Tod und Jenseits im Alten Ägypten 2(München 2010)

Folkers 2020
Andreas Folkers, Eine Genealogie sorgender Sicherheit. Sorgeregime von der Antike bis zum Anthropozän, Behemoth – A Journal on Civilisation 13,2, 2020, 16–39

Foucault 2005 [1984] Michel Foucault, Technologien des Selbst [1984], in: Daniel Defert – François Ewald
(Hrsg.), Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band IV. 1980–1988 (Frankfurt a. M. 2005) 966–999

Henkel u. a. 2016
Anna Henkel – Isolde Karle – Gesa Lindemann – Micha H. Werner, Drei Dimensionen der Sorge, in: Anna Henkel – Isolde Karle – Gesa Lindemann – Micha H. Werner
(Hrsg.), Dimensionen der Sorge. Soziologische, philosophische und theologische Perspektiven, Dimensionen der Sorge 1 (Baden-Baden 2016) 21–34

Henkel u. a. 2019
Anna Henkel – Isolde Karle – Gesa Lindemann – Micha Werner, Einleitung, in: Anna Henkel – Isolde Karle – Gesa Lindemann – Micha Werner (Hrsg.), Sorget nicht – Kritik der Sorge, Dimensionen der Sorge 2 (Baden-Baden 2019) 7–15

Maloney u. a. 2022
Tim Ryan Maloney – India Ella Dilkes-Hall – Melandri Vlok – Adhi Agus Oktaviana – Pindi Setiawan – Andika Arief Drajat Priyatno – Marlon Ririmasse – I. Made Geria – Muslimin A. R. Effendy – Budi Istiawan – Falentinus Triwijaya Atmoko – Shinatria Adhityatama – Ian Moffat – Renaud Joannes-Boyau – Adam Brumm – Maxime Aubert, Surgical Amputation of a Limb 31,000 Years ago in Borneo, Nature 609, 2022, 547–551

Puig de la Bellacasa 2017
María Puig de la Bellacasa, Matters of Care. Speculative Ethics in More Than Human Worlds, Posthumanities 41 (Minneapolis, London 2017)

ZITIERVORSCHLAG

Stefan Schreiber – Monika Zöller-Engelhardt, Sorge(n) des Lebens. Eine Einleitung, in: Stefan Schreiber – Monika Zöller-Engelhardt (Hrsg.), Sorge(n) des Lebens: Herausforderungen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus Sicht der Ancient Studies (Mainz 2022) 1–5. DOI: 10.25358/openscience-8006

 

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